Leseprobe “Winterland”

Auszug aus “Winterland” von Hubert M. Schießl, Kapitel II:
Die Ausweisung

Alles deutete auf einen Abend mit den erlesenen Genüssen hin, für die Ovids Haus berühmt war. Doch diese Erwartung wurde jäh enttäuscht, wie wenn der rächende Jupiter seinen Blitz aus dem spätabendlichen Winterhimmel geschleudert hätte.
Gerade hatten wir den Hauptgang aufgetragen und den Gästen zum Teil schon ihre Portion vorgelegt, der Gastgeber hatte seinen Dichterkollegen Horaz zitiert und mit dem Ausruf „nunc est bibendum“ die Tischgesellschaft aufgefordert, dem Falerner-Wein* tüchtig zuzusprechen, als der Sklave Türhüter hastig in das Speisezimmer trat und einen hochgestellten Boten meldete. Ihm folgte auch schon ein Beamter der Präfektur. Er stieß den Sklaven ziemlich unwirsch zur Seite, entfaltete eine Schriftrolle und forderte höchste Aufmerksamkeit für ein Dekret des erhabenen Prinzeps, das lautete: „Hiermit verfüge und wiederhole ich kraft meiner kaiserlichen Autorität die Ausweisung des P. Ovidius Naso nach Tomi an die Grenzen des Reiches wegen folgender Vergehen: Erstens: Verstöße gegen bestehende Ehegesetze durch fortdauernde Verherrlichung und Förderung des Ehebruchs. Zweitens: Majestätsbeleidigung in Verbindung mit geheimen Umtrieben, insbesondere der Propaganda zum Umsturz. Der Vollzug hat ohne Aufschub zu erfolgen, die allerletzte Frist ist nunmehr verstrichen. Rom ist vor dem Anbruch des nächstfolgenden Tages zu verlassen. Von einem Verlust des Bürgerrechts wegen dieser Vergehen kann nur abgesehen werden, wenn der Verurteilte der Relegation unverzüglich nachkommt. Gegeben, den … etc. etc.“
„Also doch“, war alles, was Ovid zu äußern imstande war. Von den Anwesenden war nur Marcus Aurelius Cotta, Ovids bester Freund und Verleger, geblieben, um dem so jäh ins Unglück Gestürzten seinen Beistand anzubieten. Zunächst aber konnte er bei der Wehklage der Gattin und der sprachlosen Verzweiflung Ovids nichts tun, als dem Wachsoldaten, der den Beamten der Präfektur begleitet hatte und den pünktlichen Aufbruch des Verurteilten und die Stationen seines Weges überwachen sollte, einen Warte- und Ruheplatz und noch eine Mahlzeit zuzuweisen. Essen war ja genug da, so dass wir ihm eine üppige Platte richten konnten. Cotta hoffte wohl, dadurch seinem Freund ein gewisses Entgegenkommen beim Vollzug der Ausweisung zu sichern. Dann, als die Verzweiflung Ovids von der Regungslosigkeit in völlig ziellose Hektik umschlug und er sich wie von Sinnen anschickte, die bereitliegende Manuskriptrolle der „Verwandlungen“, aus denen er an diesem Abend hatte rezitieren wollen, in das noch glimmende Herdfeuer zu werfen, zog es Cotta im letzten Augenblick heraus und steckte es, angesengt zwar, aber sonst unversehrt, mir zu, wobei er ausrief: „Naso, sagst du nicht selbst von deinem Werk, dass es unvergänglich sei? Warum willst du es also vernichten?“